• Gebundenes Buch

42 Kundenbewertungen

Soziale Gerechtigkeit bedeutet gerechte Verteilung von Zeit.
Zeit ist die zentrale Ressource unserer Gesellschaft. Doch sie steht nicht allen gleichermaßen zur Verfügung. Teresa Bücker, eine der einflussreichsten Journalistinnen in Deutschland, macht konkrete Vorschläge, wie eine neue Zeitkultur aussehen kann, die für mehr Gerechtigkeit, Lebensqualität und gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgt.
Ausgezeichnet mit dem NDR Sachbuchpreis 2023

Produktbeschreibung
Soziale Gerechtigkeit bedeutet gerechte Verteilung von Zeit.

Zeit ist die zentrale Ressource unserer Gesellschaft. Doch sie steht nicht allen gleichermaßen zur Verfügung. Teresa Bücker, eine der einflussreichsten Journalistinnen in Deutschland, macht konkrete Vorschläge, wie eine neue Zeitkultur aussehen kann, die für mehr Gerechtigkeit, Lebensqualität und gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgt.

Ausgezeichnet mit dem NDR Sachbuchpreis 2023
Autorenporträt
Teresa Bücker, geboren 1984, ist Publizistin und Vordenkerin im Bereich Feminismus, Arbeit und Gesellschaft. Seit 2019 ist sie Kolumnistin des SZ-Magazins. Von 2014 bis 2019 war sie Chefredakteurin des feministischen Onlinemagazins EDITION F. Als Expertin wird sie regelmäßig zu Konferenzen und in politische Talk-Sendungen geladen. https://teresabuecker.de
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ein Buch mit Schlagkraft annonciert Rezensent Niklas Elsenbruch mit Teresa Bückers Streitschrift. Wie Elsenbruch darstellt, beklagt die feministische Journalistin darin nicht nur Überarbeitung und Dauerstress, sondern sieht das aus dem Ruder laufende Zeitmanagement als Übel der modernen Gesellschaften. Sie bezieht sich dabei auf Frigga Haugs Grundmodell der Vier-in-einem, erklärt der Rezensent: Jedem Menschen sollten am Tag vier Stunden Zeit für Erwerbsarbeit, Sorgearbeit, Selbstfürsorge und gesellschaftspolitisches Engagement zur Verfügung stehen. Für Elsenbruch ist völlig klar, wie anders das gesellschaftliche Miteinander bei einem solchen Modell aussehen würde - verglichen mit einer Gesellschaft, in der achtzig Prozent der Menschen angeben, keine Zeit für gesellschaftliches Engagement zu haben, und ein Drittel aller Kinder meint, ihr Vater hätte zu wenig Zeit für sie, und in der allein von den geleisteten Überstunden 900.000 neue Jobs geschaffen werden könnten.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2022

Zeit und Sein
Wenn wir unsere sozialen Probleme lösen wollen, müssen wir den Takt unseres Alltags ändern, schreibt Teresa Bücker. Eine überfällige Intervention
Als Robert Habeck jüngst auf einem Industriekongress die Überlastung seiner Mitarbeiter beklagte, überraschte weniger die Sache selbst als vielmehr der Umstand, dass ein ranghoher Politiker die Folgen beruflichen Dauerstresses öffentlich thematisierte. Habecks Wirtschaftsministerium stellt allerdings keine Ausnahme dar: Laut einer Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes von 2019 fühlen sich 53 Prozent der Arbeitnehmer häufig oder sehr häufig während der Arbeit unter Zeitdruck. Die Eltern kleiner Kinder verrichten Erhebungen zufolge in der Woche mehr als 60 Stunden bezahlter und unbezahlter Arbeit. Drei Viertel der Mütter minderjähriger Kinder können sich nicht ausreichend erholen.
Alarmierende Zahlen wie diese nimmt die feministische Journalistin Teresa Bücker in ihrem Sachbuch „Alle_Zeit“ zum Ausgangspunkt, um das Bild eines Landes im Dauerstress zu zeichnen, der zur eklatanten Vernachlässigung persönlicher Bedürfnisse führt, die individuelle Freiheit einschränkt und die Gesundheit gefährdet. Als Konsequenz fordert Bücker eine neue Kategorie gesellschaftspolitischer Debatten und Entscheidungen: die Zeit. Auf diese Idee ist sie nicht als Erste gekommen, das schmälert jedoch nicht die Dringlichkeit ihres Appells. Dessen Stärke liegt darin, dass Bücker das Zeitproblem nicht bloß in die lange Liste der Baustellen und Perspektiven einreiht, die den politischen Diskurs der Gegenwart beherrschen. Stattdessen verortet sie es an der Wurzel anderer Reizthemen.
Beispielhaft gelingt das im Fall der Gleichstellungsdebatte: Hier identifiziert Bücker die Forderung des bedingungslos leistungsorientierten Lean-in-Feminismus nach besseren Karrierechancen für (starke) Frauen sofort als unzureichend. Schließlich sei damit nicht gesagt, dass Frauen nicht weiterhin den Großteil der Haushaltsführung übernähmen – sie täten es dann eben am Ende langer Arbeitstage. Das Kernproblem sei prinzipieller: die zeitliche Unvereinbarkeit von Arbeit, Haushalt und Familie, geschweige denn Freizeit und politischem Engagement. Weil sich Zeit im Gegensatz zu Geld nicht mehren lässt, sieht Bücker die Lösung in deren Umverteilung. Was sie im Sinn hat, wird deutlich, wenn sie die Vier-in-einem-Perspektive der Soziologin Frigga Haug als Modell zeitgemäßen Alltagslebens anführt: Jedem Erwachsenen sollen pro Tag je vier Stunden für Erwerbsarbeit, Sorgearbeit, Selbstfürsorge und gesellschaftspolitisches Engagement zur Verfügung stehen.
Dabei erhebt Bücker statt Geldscheinen nicht Stunden zur neuen Wohlstandswährung, sondern legt das Augenmerk auf die Qualität erlebter Zeit. Studien, die über den Tag verteilte „Zeitkonfetti“ wie die zehn Minuten zwischen Wickeltisch und Abendbrot als Freizeit rechnen, werden dem Empfinden der Betroffenen nicht gerecht. Menschen brauchen ausreichend zusammenhängende Zeiträume für ihre Aufgaben und Bedürfnisse. Klar wird hier, wie das Zeitproblem über die Frage der Geschlechtergerechtigkeit hinausreicht: Fast die Hälfte aller Eltern in Deutschland belastet fehlende Zeit im Alltag am meisten. Nur vier Prozent der Männer, die Angehörige pflegen, arbeiten nicht Vollzeit. Lediglich ein Drittel aller Kinder findet, dass ihre Väter genug Zeit für sie haben.
Die Bedeutung von Zeit als politischer und kultureller Größe zeigt Bücker auch für die Teilhabe am demokratischen Leben: Drei Viertel derjenigen, die sich noch nie ehrenamtlich engagiert haben, nennen Zeitmangel als Grund. Unter den Engagierten bringen 60 Prozent dafür nur bis zu zwei Stunden pro Woche auf. Zu Recht fragt Bücker, wie viel solche „geringfügigen Spenden“ bewirken, und merkt an, dass man sich auch Engagement leisten können müsse. Gleiches gilt für die Selbstfürsorge. Hier entwirft Bücker einen idealen Alltag, der unverplante Zeit enthält, in der man die Zeit vergessen darf und eintauchen in Momente des Flows, der persönlichen Erfüllung, Entwicklung und Sinnhaftigkeit. Das hat einen ganz anderen Klang als die Unkultur von Überarbeitung, atypischen Arbeitszeiten und ständiger Verfügbarkeit gerade auch im Home-Office.
Da fragt sich, ob all das nicht wunderbar damit zusammenpasst, dass 80 Prozent der Beschäftigten in Europa sich eine Vier-Tage-Woche wünschen, je nach Studie mit einer Arbeitszeit von nur 20 Stunden. Die Gegenargumente liegen auf der Hand: Die Arbeitszeit hat sich bereits halbiert gegenüber den täglichen 16 Stunden, die vor 200 Jahren noch üblich waren. Sind die Angestellten nicht bloß weinerlich geworden? Bücker kontert, die Arbeitszeit sei nicht im Allgemeinen gesunken, sondern diffundiert: einerseits hin zu Minijobs, andererseits zu Überstunden. In Deutschland beläuft sich die nach Feierabend geleistete Arbeit auf jährlich 900 000 zusätzliche Vollzeitjobs. Ließen sich diese und andere Stunden nicht so verteilen, dass sowohl die Wünsche nach dringender Entlastung als auch nach einer mehr als nur geringfügigen Beschäftigung in Erfüllung gingen?
Noch schwerer wiegt die Frage, wie sich der Verzicht auf Arbeitsstunden finanzieren lässt, besonders in Zeiten steigender Preise. Bücker entgegnet, das Geld sei durchaus vorhanden, nur müssten erwirtschaftete Profite weniger den Unternehmen und vermehrt deren Angestellten zukommen. Dann könnten diese dank höherer Löhne ihr Pensum zurückschrauben. Auch einen von der Zahl der Arbeitsstunden unabhängigen Mindestlohn pro Woche oder Monat bringt sie ins Spiel, genauso wie einen „Verzicht auf Altersgrenzen beim Bafög, angemessen bezahlte Weiterbildungszeiten und Freiwilligendienste oder ein bedingungsloses Grundeinkommen“. Alle diese Vorschläge sind zu bedenken, verbleiben jedoch notgedrungen (es ist ja das Buch einer Gesellschaftskritikerin, nicht ein Regierungsprogramm) in der Man-müsste-Sphäre. Die Schlagkraft von „Alle_Zeit“ liegt in seiner Grundidee, die uns herausfordert, den zermürbenden Takt unseres Alltags gesamtgesellschaftlich zu hinterfragen. Dass wir dies endlich tun, hat nicht nur Bückers Buch, sondern haben wir alle uns verdient.
NIKLAS ELSENBRUCH
Nur ein Drittel aller Kinder
findet, dass ihre Väter
genug Zeit für sie haben
Teresa Bücker:
Alle_Zeit: Eine Frage von Macht und Freiheit –
Wie eine radikal neue, sozial gerechtere Zeitkultur aussehen kann.
Ullstein, Berlin 2022.
400 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr
»Teresa Bücker gehört aktuell zu den interessantesten feministischen Stimmen in Deutschland.« RBB Kultur Das Magazin RBB Kultur Das Magazin 20221119